RUNTER, DRUNTER, DRÜBER
Die weiße Wand, gleich eingangs, mit der einzelnen, lässig in der Ecke lehnenden weißen Latte
könnte noch als elegante, reduzierte Setzung durchgehen, formales Understatement. Hier aber
macht sie nur die Honneurs für eine gebrochene Parade von halb stehenden, halb hängenden
(Richtung Decke unelegant mit knülligem Paketband gehalten), lehnenden, und liegenden Latten,
teils krückenhaft mit Gaffer-Tape verlängert, die sich offensichtlich weniger bemühen, den Raum zu gliedern, als ihn zu zergliedern (ihn also im Wortsinne zu sezieren). Auch das Gebretter, das am Boden liegt und an Wänden lehnt, fragmentiert den Raum und scheidet gleichzeitig verschiedene Schichten und Ebenen von Malerei, seinerseits vom Lattenwerk irritiert umstelzt.
Anscheinend geht es bei Simone Lanzenstiel in der letzten Zeit zunehmend darum, das Bild von der Leinwand herunter zu bekommen und in den Raum; herunter und drunter und drüber. Mit Blau und Rot und Silberspray und Lack und Tape, auf Wänden und Latten und Brettern greift die Malerei Raum und spielt sich weiträumig, mit lokalen Verdichtungen und vielen Leerstellen und Auslassungen, über die diversen Materialien ("Malgründe" zu schreiben klänge hier schrecklich anachronistisch) und Oberflächen.
Und an der Oberfläche verweilt sie und will anscheinend auch gar keine Tiefe. Was da ist, ist einfach da. WYSIWYG. Wenn Flachheit, wie Clement Greenberg meinte, ein genuines und konstitutives Merkmal des Mediums Malerei ist, geht es hier malerischer zu, als auf den meisten Leinwänden. Auf der anderen Seite erscheint das Gemalte, die Ausführung selbst, suchend, zweifelnd, fast nihilistisch: unsichere Markierungen, Spuren (aber von was?), Wischer, Andeutungen, Versuche, Fragmente, gestische Ansätze ohne große Geste, Abbrüche, Striche, denen die Farbe ausgeht…Offensichtlich ein Operieren in unsicherer Höhe und ohne ein Netz von Gewissheiten, ein stetes Suchen, Fühlen,Tasten, Probieren, ein Sich-Vermalen, -Zermalen, -Zermahlen.
Dieser drängende Eindruck von post-teleologischer Ziellosigkeit, von Un- oder bestenfalls
Mikroordnung als neuem Ordnungsprinzip, verlangt dem Betrachter einige Anstrengung ab, ihm
gegenüber so weit zurückzutreten, dass der Raum als Ganzes in den Blick genommen werden kann. Dann aber – und hier ist es wie bei bestimmten Vexierbildern: hat man es erst einmal gesehen, kann man es gar nicht mehr nicht sehen – offenbart sich eine erstaunliche Ordnung zweiter Ordnung, in die Lanzenstiels Interventionen den vorhandenen Raum biegen. Nie vorher gelang es den Kunstarkaden, so offen, großzügig und frisch zu wirken, trotz des drückenden Segmentbogengewölbes, der retrofuturistisch offengelegten Versorgungsrohre und -
schächte, der durch die Renovierung komplett entstellten Neorenaissance-Kellerfensterordnung...
Die Arbeit entbirgt aus dem an sich unglücklichen Raum einen bislang unbekannten, aber
wundervollen Geheimraum und schreibt sich in diesen als Raumbild ein, wie auf eine (normalerweise kaum denkbare) unschuldige Leinwand – das Bild aber, das in und mit diesem neuen Raum sich bildet, konterkariert, als eigensinniger performativer Widerspruch, jeglichen nachmalerischen Nihilismus der Details.
Peter T. Lenhart, 2010.